Dr. med. Eberhard Biesinger ist Facharzt für HNO, Chirotherapie sowie plastische Operationen und Leiter des HNO-Zentrums Traunstein. Mit seiner über 30-jährigen Erfahrung im HNO-Bereich und etlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen gilt er als Koryphäe zum Thema Schwerhörigkeit bei Kindern. Wir durften den Experten interviewen und haben viel Spannendes über das kindliche Gehör, das Thema Vorsorge, aber auch über die Behandlungsmöglichkeiten erfahren.
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Herr Dr. Biesinger, steigen wir doch gleich mitten ins Thema ein. Würden Sie sagen, dass das Gehör von Kindern empfindlicher ist als jenes von Erwachsenen?
So kann man das nicht sagen. Es ist so, dass das kindliche Gehör wie eine Batterie die volle Leistung mit auf die Welt bekommt. Das heißt, die Sinneszellen sind in vollem Umfang angelegt und sehr funktionstüchtig. Wenn dann Spielzeug verwendet wird, das sehr laut ist, wie zum Beispiel Schreckschusspistolen oder Ähnliches, wird die „Batterie“ frühzeitig geschwächt, das heißt Sinneszellen gehen kaputt. Das müssen die Kinder dann im späteren Leben büßen.
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Das heißt, die Hörfähigkeit von Kindern ist stark mit den Geräuschen in der Umwelt verknüpft?
Ja, genau. Das Spielzeug, das verwendet wird, spielt hierbei eine wichtige Rolle und Eltern sollten darauf achten, dass sehr lautes Spielzeug möglichst nicht ins Spielzimmer kommt. Das wird leider immer noch vernachlässigt.
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Gibt es eine Regel, die besagt, ab welcher Lautstärke es für das kindliche Gehör gefährlich wird?
Das sind, wie bei Erwachsenen auch, 90 Dezibel. Wobei man bei Kindern darauf achten muss, dass diese wesentlich weniger Hörlautstärke benötigen, um die gleich Hörwahrnehmung zu haben. Kinder haben auch im Frequenzbereich ganz andere Möglichkeiten als wir Erwachsenen, das heißt Kinder hören bis über 20.000 Hertz. Diese Hochtonempfindlichkeit nimmt dann mit zunehmendem Alter ab. Das macht sich frühzeitig dadurch bemerkbar, dass man in Lärmumgebungen nicht mehr so gut hört, das ist die sogenannte Party-Schwerhörigkeit. Diese tritt umso früher auf, je früher man pathologischen Lärm ertragen musste.
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Wenn man eine Schwerhörigkeit bei Kindern ausschließen möchte, ab welchem Alter sollte man einen Hörtest machen lassen?
Es ist so, dass heute durch das Neugeborenen-Screening bereits in den ersten Lebenstagen in den Krankenhäusern ein Hörtest gemacht wird. Hier wird bereits sehr früh geprüft, ob die Sinneszellen funktionstüchtig sind. Dieser Test reagiert sehr empfindlich auf Abweichungen. Wenn hier Auffälligkeiten festgestellt werden, muss man weiterschauen. Wenn der Test bestanden wird, ist es eigentlich nicht notwendig, dass noch weitere Hörtests gemacht werden. Man sollte sich dann an der Sprachentwicklung orientieren. Wenn die Sprachentwicklung normal beginnt und die Mütter – die eigentlich sehr gut wissen, wie ihr Kind auf Geräusche reagiert – keine Auffälligkeiten feststellen, dann braucht man auch keinen weiteren Hörtest.
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Wie kann man sich den Ablauf eines Hörtests für Kleinkinder vorstellen?
Also, man arbeitet hier mit den Otoakustischen Emissionen, die ein Professor Kemp in London entwickelt hat, der dafür meiner Meinung nach den Nobelpreis verdient hätte. Es ist so, dass das Innenohr aktive Sinneszellen besitzt, die sich, um hören zu können, zusammenziehen und aktive kleine Bewegungen machen müssen. Pro Ohr gibt es ca. 48.000 dieser Zellen und über eine Million bewegliche mechanische Teilchen, die dafür sorgen, dass sich die Zellen zusammenziehen können. Diese aktive Bewegung ist notwendig, damit man die aktiven Töne von den anderen unterscheiden kann. Das heißt, wenn Sie vor einem Orchester sitzen und 50 verschiedene Instrumente vor sich haben, dann können Sie jedes Instrument einzeln heraushören – wenn Sie sich darauf konzentrieren. Das ist eine aktive Leistung, nicht nur des Gehirns, sondern auch dieser Sinneszellen, die sich unterschiedlich zusammenziehen und zucken, je nachdem, für welchen Frequenzbereich sie individuell zuständig sind. Man kann es sich so vorstellen, dass die Sinneszellen wie Klaviertasten angeordnet sind, wobei jede Sinneszelle für einen bestimmten Ton verantwortlich ist – ganz einfach ausgedrückt. Die aktive Bewegung der Sinneszelle verursacht dann eine Welle, das heißt die Sinneszellen schwimmen in einer Flüssigkeit, der so genannten Innenohrflüssigkeit, und wie wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen, wird jedes Zusammenzucken dieser Sinneszelle eine Welle auslösen. Wenn wir mit unseren Ohren hören, produzieren wir diese Wellen, das heißt, wenn ich zu Ihnen spreche, dann kommen diese Wellen an Ihrem Ohr an, und lösen eine Bewegung und die elektrisch-chemische Reaktion aus. Es erfolgt eine Weiterleitung zum Gehirn. Aber man kann diese Sinneszellen natürlich auch so anregen, dass sie ihrerseits eine Welle auslösen, und das sind dann die Otoakustischen Emissionen. Man steckt also dem Kind einen kleinen Knopf ins Ohr, an dem sich ein kleiner Lautsprecher und ein Mikrofon befinden. Der Lautsprecher setzt einen kleinen Klickreiz, dieser regt die Sinneszellen an, eine Bewegung zu machen, und dann misst das Mikrofon eine Millisekunde später, was aus dem Ohr rauskommt. Die Grundlage dafür ist die aktive Bewegung, und wenn sich die Sinneszellen nicht mehr bewegen können, weil sie geschädigt wurden, dann kann man diese Wellen auch nicht mehr messen und der Test fällt dann negativ aus.
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Würden Sie sagen, dass es wichtig ist, eine Hörschwäche bei Kindern frühzeitig zu erkennen, vor allem in Bezug auf die Sprachentwicklung sowie die soziale Entwicklung?
Unbedingt! Wir Ärzte sind da noch schwer hinterher und auch mit der Forschung noch nicht am Ende, wann und wie wir Kinder fördern müssen. Wir haben in erster Linie das grobe Gehör – das dafür sorgt, dass das Kind überhaupt etwas hört –, anschließend findet dann eine Ausreifung im Gehirn statt, und diese Ausreifung kann natürlich unterstützt oder auch durch falsche, unphysiologische Geräusche gehemmt werden. Deshalb ist es wichtig, die Kinder nicht mit akustischem Müll zu stimulieren, sondern sie mit Musik, dem frühzeitigen Erlernen von Instrumenten und mit aktivem Hören zu fördern. Die Sprachentwicklung ist für uns Kliniker natürlich ein Meilenstein in der Entwicklung des Kindes, aber das ist nur ein Bruchteil dessen, was unser Gehirn in akustischer Hinsicht leisten kann. Es geht uns allen so, dass man bei seinem Gegenüber schnell akustisch herausfindet, wie er drauf ist, und auch man selbst hat seinen emotionalen Fingerabdruck in der Sprache. Das wird alles über das Gehör vermittelt. Darum machen wir Ärzte uns auch Gedanken, wie man Kinder am besten in der frühen Entwicklung fördern könnte.
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Welche Ansätze gibt es hierzu?
Man macht sich in erster Linie einmal Gedanken darüber, in welcher Umgebung wir hier leben. Wir sind so viel Lärm ausgesetzt, zum Beispiel technischem Lärm durch Autos etc., dass es wichtig ist, den Kindern beizubringen, Stille zu ertragen und zum Beispiel Naturgeräusche wieder zu hören. Manche Forscher vermuten, dass Tinnitus oder auch Schwerhörigkeit im jüngeren Alter, dadurch zustande kommen, dass wir unsere Ohren viel zu sehr einem nicht geeigneten Lärm aussetzen oder sie auch durch unterschiedliche, nicht naturgegebene Frequenzen belasten. Mein ehemaliger Chef machte einmal eine spannende Untersuchung bei Völkern in Zentralafrika, die nie mit technischem Lärm in Verbindung gekommen waren, und stellte fest, dass alle bis ins hohe Alter hinein gut gehört haben. Das war sehr bemerkenswert. Natürlich spielen hier auch genetische Faktoren eine Rolle, aber unsere Ohren sind einfach nicht für den Lärm, den es erst seit 100 bis 150 Jahren gibt, geeignet.
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Das heißt, es ist wichtig, Kindern auch akustische Ruhephasen zu gönnen? Gemeinsam raus in die Natur zu gehen und einfach mal die Stille zu hören?
Ja, das tut nämlich nicht nur den Kindern gut, sondern auch uns Erwachsenen. Einfach einmal bewusst zu lauschen. Die Reizüberflutung, die Kinder gerne wahrnehmen, weil sie ja dann nicht mehr reflektiv agieren, sondern nur noch zugeschüttet werden, sollte so gering wie möglich gehalten werden. Kinder organisieren sich auch selbst gerne durch Lärm. Wer am lautesten schreit, setzt sich durch. Das ist ein Prozess, dem man etwas entgegenhalten kann, und das wäre die Stille.
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Welche Therapien werden bei Kindern die unter Schwerhörigkeit leiden angewandt?
Da gibt es viele verschiedene Therapieansätze, wie jene, die spielerisch mit Musikinstrumenten zu tun haben. Vor allem die Orff’schen Instrumente, die sehr früh eingesetzt werden können, da sie nicht so viel Differenziertheit des Denkens verlangen, sind meist gut geeignet. Meine Empfehlung ist, frühzeitig ein Instrument zu lernen. Da geben die Kinder sehr dezidiert Auskunft darüber, was sie interessiert. Oft spiegelt das auch die Mängel wider, die das Kind im Hören hat – ob es eher rhythmische Instrumente lernen möchte oder in Richtung Streichinstrumente geht. Dann gibt es natürlich auch noch spezifische Therapien wie zum Beispiel die Tomatis-Therapie, bei der viel mit hohen Tönen gearbeitet wird, oder auch logopädische oder pädaudiologische Therapien. Hier werden primär die Aufmerksamkeit sowie das Hören spezieller Frequenzen auf spielerische Weise und unter Einsatz der verschiedensten Instrumente geschult. Es gibt keinen klaren Ansatz, sondern es ist wichtig, dass die Kinder das bewusste Hören lernen. Hier kann man bereits sehr früh beginnen und unter anderem schon mit Babys arbeiten, indem man sie, zum Beispiel beim Stillen, sehr behutsam mit Mozart in Berührung bringt. Wie sich das Kind dann entwickelt, hängt stark von der genetischen Veranlagung ab; also kann es sein, dass das Kind, das in aller Vorsicht mit Mozart beschallt wird, trotzdem ein Rockmusiker wird. Man kann die Kinder dadurch nicht prägen, aber sehr viel für eine gute Entwicklung des Gehörs tun.
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Vielen Dank Herr Dr. Biesinger für Ihre Zeit und das interessante Gespräch!
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